Vermächtnis
Wenn das 100 Meter lange Beton-Giebeldach aus der grünen Talsenke auftaucht, ist man überrascht: geschockt von der radikalen Klarheit der seriellen Form und seiner architektonischen Souveränität im Niemandsland. Das ehemalige Thomas-Glaswerk in Amberg ist der mächtige Schlussstein, den der Bauhausgründer Walter Gropius ans Ende seiner Karriere setzte, die 1911 mit dem Bau der Schuhleistenfabrik FAGUS in Ahlfeld begonnen hatte.
Während sein erster Industriebau Legende ist, gehört die Oberpfälzer Glashütte zu den beinahe vergessenen Werken, obwohl sie alle Tugenden des neuen Bauens besitzt: Die „Hütte" ist jener „klare organische Baulaib..., nackt und strahlend aus innerem Gesetz heraus ohne Lügen und Verspieltheiten", den Gropius als Ziel und Ideal des Bauhauses propagiert hatte.
Wie bei den meisten seiner Nachkriegsbauwerke in Deutschland hatte Gropius in Amberg eng mit dem jüngeren Alex Cvijanovic zusammengearbeitet. Cvijanovic war Absolvent der Harvard Graduate School of Design und wurde aufgrund seiner guten Französisch- und Deutschkenntnisse in die von Gropius mitbegründete Arbeitsgemeinschaft „The Architects Collaborative" (TAC) aufgenommen, die zunehmend Aufträge in Europa wahrnahm. Sein Verhältnis zu Gropius beschrieb Cvijanovic anlässlich der Testamentseröffnung 1969: „I was the son, he never had, and he was the father I lost as a young boy." Die Glasfabrik ist das Vermächtnis des Übervaters der Moderne, denn die Vollendung im Jahre 1970 hat der Exilant nicht mehr erlebt.
Kathedrale der Arbeit
Für die spektakuläre Architektur fand der Volksmund schnell einen Namen: „Glaskathedrale". Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung Johann Klöcker wies am 2.7.1970 darauf hin, dass Gropius bereits in seiner ersten Fassung des Bauhausmanifests 1919 von der „schöpferischen Konzeption der Zukunftskathedrale" gesprochen hatte und das Manifest einen Holzschnitt von Lyonel Feininger im Titel trug: „Eine phantastisch strahlende Kathedrale". Phantastisch strahlend muss auch der nächtliche Eindruck der Ofenhalle gewesen sein, die über den schmalen Lichtbändern der Flachbauten rötlich glühend zu schweben schien.
Heute firmiert die Glashütte als „Kristall-Glasfabrik Amberg GmbH". Immer noch werden dort Kelchgläser für unterschiedliche Firmen produziert. Allerdings vollautomatisch. Statt der vier Schmelzöfen gibt es nur noch eine riesige Misch- und Ofeneinheit und nur noch eine Kühlstraße. Große Teile der Halle dienen als Lager.
Um die Glaswände vor den rangierenden Gabelstaplern zu schützen, wurden ringsum Leitplanken eingezogen. Einige Gänge werden zudem von Wellblechen geschützt. Das nimmt dem Gebäude seine lichte Leichtigkeit. Auch ist es nicht mehr möglich, überall ungehindert ins Freie zu treten. Statt der Drehtüren gibt es heute Flügeltüren. Ansonsten hat sich der Betonbau erstaunlich gut gehalten. Allerdings sind die Flachdächer nach einer Reparatur nicht mehr Achse für Achse alternierend mit grauen und weißen Kieseln bedeckt, so dass die puristische Komposition Einbußen hinnehmen musste.
Die Glasfabrik ist dennoch bis heute eine der ungewöhnlichsten und architektonisch überzeugendsten Industriebauten der Bundesrepublik und eins der jüngsten Baudenkmäler Bayerns.
(Textauszug Ira Diana Mazzoni)
----
Die "Glaskathedrale" in Amberg wurde 2015 nach vielen Jahren erstmals umfassend fotografisch dokumentiert. Im Zuge dessen ist eine "Baudokumentation" neu erschienen:
Baudokumentation 02 „Walter Gropius – Glaswerk Amberg"
48 Seiten Format, 115 x 165 mm. geklammert, Preis 5,- Euro
Herausgeber: Koch, Schmidt-Schönenberg, Wilhelm GbR
Lederergasse 5, 92224 Amberg
www.buero-wilhelm.de/verlag