Der Freitagabend begann mit dem Kulturreferenten Dr. Hans-Georg Küppers, der in seinem Grußwort davor warnte, so unterschiedliche Protestbewegungen wie „Occupy Wall Street“ und die „Arabellion“ nur deswegen gleichzusetzen, weil sie dieselben Medien verwenden.
Auf ihn folgte Bündnis 90/Die Grünen-Stadtrat Siegfried Benkert, der unter dem Titel „Stadtluft macht frei!“ durch die Geschichte der Bayerischen Protestbewegung seit 1848 führte: Von der Bierpreisrevolution über Lola Montez und Kurt Eisner bis zu den Schwabinger Krawallen gelte, so Benkert, dass Stadtluft nicht nur frei, sondern auch rebellisch mache. Diese Aussage „verlängerte“ Anne Roth, Mitgründerin von Indymedia.de, in ihrem Ausblick auf die digitalisierte Welt bis 2048 – wobei, so ihre These, virtueller Protest vor allem als begleitender Protest zu einem real stattfindenden Protest an einem konkreten Ort wirksam ist.
Das anschließende Kamingespräch drehte sich vor allem um die Frage, was die neuen Formen einer digitalen Bürgerbeteiligung konkret für die Demokratie leisten – Beteiligung, so der Landesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen, Dieter Janacek, „ist nicht l'art pour l'art, sondern muss zielgerichtet sein und zu Entscheidungen führen.“
Nach einem optionalen Morgenspaziergang am See stand der Samstagvormittag dann – endlich – im Zeichen von „Arabellion“: Unter dem Label „Bottom Up“ sprachen die Journalistin Hannah Wettig über „Zivilgesellschaft und Revolution in den Städten des Orients“, die Medienwissenschaftlerin Rania Gaafar über mediatisierte Räume und „Akteur-Netzwerke“. Und bei allen Unterschieden ihrer Betrachtungsweise stimmten auch sie überein, dass erfolgreicher Widerstand unbedingt erleb- und besetzbare Räume in der realen Welt benötigt: In Kairo, so Hannah Wettig, eroberten die Revolutionäre den „analogen Raum“ des Tahrir Square erst nachdem die Regierung das Internet und die Mobilfunknetze abgeschaltet hatte.
Im Anschluss daran untersuchte der Soziologe Prof. Dr. (em.) Dieter Rucht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Protesten. Neben Unzufriedenheit u. a. die Wahrnehmung, nicht alleine von dem jeweiligen Problem betroffen zu sein, Multiplikatoren und entsprechende Gelegenheitsfenster.
„Top Down“ und „Inside Out“ waren die Oberbegriffe des Nachmittags: Die Vorstellung des „Munich Online Government Day“ (MOGDy) unterstrich, dass (auch) München den öffentlichen Zwischenraum erobert, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das ehemalige Vorzeigeprojekt einer digitalen Verwaltungsöffnung im zweiten Jahr nach seinem Start durchaus etwas neuen Schwung vertragen könnte.
In Hamburg ist man dagegen mit mehr Rückenwind unterwegs: Dort hat die städtische Kreativgesellschaft mit „Nordstarter“ eine Crowdfunding-Plattform geschaffen, auf der jeder sein Projekt – von der Kinderfreizeit bis zur Konzertveranstaltung – vorstellen, bewerben und online Geld für die Umsetzung sammeln kann. Immerhin sieben Ideen wurden auf diese Weise erfolgreich realisiert.
Wobei zur Ehrenrettung der Landeshauptstadt noch gesagt sei, dass im Rahmen von „München MitDenken“ auch hier interessierte Bürger die langfristige Entwicklung der Stadt mitgestalten können – on- wie offline.
Der Samstagnachmittag gehörte dann zwei Vertretern aus der Wirtschaft. Stefan Schröder von Siemens zeigte anhand des in den Londoner Royal Victoria Docks angesiedelten Projekts „The Crystal“, welche neuen Herausforderungen und Geschäftsfelder im Zeichen des „Urban Millennium" für Infrastrukturanbieter wie Siemens in den (Mega)Städten und Ballungsräumen weltweit entstehen, und Peter Kusterer von IBM Deutschland präsentierte die „Smart City Initiative“: Städte als System von Subsystemen, welche die Probleme der Welt im Nukleus aufzeigen und verstehbar machen - um sie anschließend mit Big Data und den sich daraus ergebenden Analyse- und Steuerungsmöglichkeiten zu lösen.
Was bleibt? Am ehesten Siegfried Benkerts Aussage, dass das Internet und die sozialen Medien zwar über ein herausragendes Demokratisierungspotenzial verfügen, sie aber keinen herrschaftsfreien Raum darstellen: Google wird mit 100 Mrd. $ bewertet, Facebook steht vor einem milliardenschweren Börsengang – insofern haben sich die Machtverhältnisse zwar von den alten Medien wegbewegt (wofür man noch vor 15 Jahren einen Verlag und eine Druckerei brauchte, kann heute jeder), sind aber keineswegs verschwunden, und das Internet gehört nicht so sehr „demjenigen, der es sich nimmt“ (Peter Kusterer), sondern denjenigen, die es sich leisten können.
Und als persönliches Fazit die Erleichterung darüber, dass die physische Anwesenheit am Tagungsort auch in Zeiten von Web 2.0 ihre Vorteile hat: Das Versprechen, via Live-Facebooking auch aus der Ferne mitdiskutieren zu können, wurde nicht ganz eingelöst – dafür waren die Kommentare zu sehr Einzelteile eines großes Puzzles, das sich online nicht zusammenfügte. Im realen Raum macht Diskutieren ja auch viel mehr Spaß...
Jochen Paul