Sonntagabend viertel vor sieben vor der Augustenstraße 47a: Im Eingangsbereich des Café Schiefer herrscht ein ziemliches Gedränge: Die Leute wollen aber nichts essen oder trinken, sondern stehen für Karten für „HiSTOR[E]y Ladengeschichten“ an.
Als es um sieben dann losgeht, schwärmen die „Besucher“ in drei Gruppen aus, um auf unterschiedlichen Routen, die Gegend zwischen Gabelsberger-, Schleißheimer-, Theresien-, Heß-, Schwind- und Augustenstraße zu erkunden; vorbei an diversen „Leuchtpunkten“, wo Postkarten die Geschichte des jeweiligen Hauses erzählen – unter anderem der ursprünglichen Spielstätte der Münchner Kammerspiele in der Augustenstraße 89, des Kaufhauses an der Ecke Theresien-/Augustenstraße, eines Ladens für „Entrümpelungen“, der Kunstgießerei München und des mittlerweile geschlossenen „Heß-Stüberls“.
Und um zeitversetzt im Abstand von 20 Minuten die drei „Hauptveranstaltungsorte“ zu erreichen: leerstehende, für das Projekt temporär genutzte Ladenlokale, die wie das in der Theresienstraße 75 bald für immer verschwinden werden. Das Haus ist verkauft, die Abrissgenehmigung erteilt. Mit ihrem Projekt führen Anna Donderer & Anna Wieczorek von CADAM die Teilnehmer der abendlichen Schnitzeljagd zu Leerstellen der Maxvorstadt.
In den drei Ladenräumen setzen sich Tänzerinnen in Form von für den jeweiligen Ort on site erarbeiteten Solo-Performances mit den Geschichten der Räume auseinander: In der Theresienstraße 156 thematisiert Amanda Billberg die lange Zeit verborgene Geschichte des ehemaligen Nagelstudios als Hinterzimmer-Bordell: in einer Choroegraphie, die zwischen Voyeurismus, nonverbaler Kommunikation und mechanisierter Routine changiert, zwischen Erniedrigung und Macht – und die an eine mechanische Puppe erinnert, die peu à peu außer Kontrolle gerät und dabei zusehends aggressiver wird.
Dagegen bearbeitet in der Theresienstraße 75 Kathrin Knöpfle passend zum letzten Mieter – über dem Eingang steht „Hörzone“ – Wände, Boden und Fenster mit einem Mikrofon (und vice versa), und feiert dabei sowohl den Raum als auch das Ende seiner Existenz. Ihre Performance ist die letzte Aktion, die in diesen Räumen stattfindet. In der Augustenstraße 74 schließlich reflektiert Stephanie Felber mit einer ganzen Armada tickender Eieruhren die jüngste Geschichte des Ladengeschäfts als Salatbar – die Räume sind wieder zu vermieten.
Das vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München geförderte, ebenso srgfältig wie aufwändig recherchierte Projekt sucht dort nach Leerstellen, wo eigentlich keine mehr sind, und eignet sich an, was (kaum beachtet) auch zum Münchner Stadtbild gehört: temporär nicht genutzte Ladenräume. Das erarbeitete Material dient den jungen Choreografinnen Amanda Billberg, Stephanie Felber und Kathrin Knöpfle als Ausgangspunkt ihrer künstlerischen Arbeit; die Zwischennutzung der Ladenräume bietet Künstlern und Besuchern die Möglichkeit für eine gezielte Auseinandersetzung mit dem Münchner Stadtbild: Was ist die Geschichte des Ladenraums? Auf welche Geschäfte, Menschen, historischen Ereignisse und Kuriositäten wird man stoßen? Dieser Spur folgt HiSTOR[E]y auf einem (Tanz-)Spaziergang von Ladenraum zu Ladenraum.
Jochen Paul