Wohnen und Leben in der Stadt: „Wohnen ist nach der UN-Menschenrechtskonvention ein Grundrecht" – mit dieser starken Aussage begann Prof. Peter Sapp von querkraft architekten aus Wien seinen Vortrag auf den 10. JUNG Architekturgesprächen in München. Die Veranstaltung hatte mit dem Thema „housing" das Wohnen und Leben in der Stadt auf die Agenda gesetzt.
Der Wunsch nach urbaner Wohnqualität ist nach wie vor groß. Immer häufiger aber steht dieser im Widerspruch zu den wirtschaftlichen Interessen der an der Entstehung eines Projektes beteiligten Player. Dazu kommt es unter anderem durch hohe Grundstückspreise zu einem Anstieg des Wohnpreisniveaus – insbesondere gilt das für München. Bezahlbaren Wohnraum zu finden, kommt damit einer kaum zu erfüllenden Aufgabe nah.
In der Folge verlieren die Stadtviertel ihren individuellen Charakter, für den sie bei den Bewohnern geschätzt werden. Das dies ein wesentliches Problem ist, verdeutlicht Professor Tobias Wallisser von LAVA aus Berlin mit seiner Definition von Wohnen. Denn nach der Auffassung von LAVA bedeutet Wohnen vor allem Leben. Doch wie lassen sich unter diesen Umständen bezahlbare Räume schaffen, in denen Menschen sich wohlfühlen, gerne leben? Über diese Problematik diskutierten die Referenten in der anschließenden Podiumsdebatte mit Professor Alain Thierstein von der Technischen Universität München und David Christmann von der PATRIZIA Deutschland GmbH. Moderiert wurde die Veranstaltung von Boris Schade-Bünsow, Chefredakteur der Bauwelt aus Berlin.
Alltagsqualität – wie entwickelt sich ein Gebäude?
"What one wants is to have room to live as a human being who makes mistakes" – diese von Peter Sapp zitiert Aussage des britischen Psychoanalytikers Wilfred R. Bion (1897-1979) steht für die Intention von querkraft architekten, Raum für Menschen zu schaffen, in dem man Mensch sein und sich in seiner Freizeit frei fühlen kann. Dazu, so Sapp weiter, sollte Raum nicht nur funktional sein, sondern auch eine poetische Komponente haben. Um diese Ansprüche erfüllen zu können, spielen flexible Grundrisse, Identität und Alltagsqualität eine wichtige Rolle.
Am Beispiel des KSM Wohngebäudes in Wien erläutert Sapp, wie die Bewohner Architektur in Besitz nehmen, ihren neuen Wohnraum mit Leben füllen und vor allem wie dieser Prozess von außen beschleunigt und gefördert werden kann. Eine Maßnahme: Statt architektonischer Fassadengestaltungselemente haben die Mieter eine Art Starterpaket erhalten, das aus dem Baubudget finanziert wurde. Mittels Blumentrögen, Sichtschutzplanen und Wäschetrockengestellen konnten sie dann individuell ihre Balkone gestalten. Das Ergebnis überzeugt: Die Bewohner nehmen ihren Wohnraum schneller in Besitz und gestalten die Architektur mit. Eine andere Form der Aneignung ist die Fassadenbegrünung. Dazu gibt es von querkraft architekten eine Begrünungsanleitung, in der den Mietern gezeigt wird, wie diese Zone bespielt werden kann. Gleichzeitig wird so die Hemmschelle heruntergesetzt, selber Veränderungen vorzunehmen. Denn, so verdeutlicht Sapp die Intention dahinter, erst wenn die Bewohner fertig sind, ist auch ein Gebäude fertig. Und nicht, wenn die Architekten ihre Arbeit beendet haben.
Flexible Grundrisse – wenn sich Wohnen den Bedürfnissen der Bewohner anpasst
Im Sinne der Nachhaltigkeit ist „reines Wohnen nicht mehr zeitgemäß" – weder für die Bewohner noch für die Bauträger, so Peter Sapp. Für die Bauträger ist eine Vergabeflexibilität wichtig. Durch diese sind Entscheidungen, welcher Wohnungstypus vermietet/verkauft werden soll, fast bis zur letzten Minute möglich. Um Umzüge wegen zu klein- oder großgewordener Wohnflächen zu vermeiden, sollten die Grundrisse sich aber auch den Bedürfnissen der Bewohner anpassen. Dazu bedarf es flexibler Grundrisse, durch die zum Beispiel Wohnungen verschmelzen können. Ein Vormietrecht im Mietvertrag bildet dazu die rechtliche Basis. Eine weitere Maßnahme stellen Lofts dar, die nach Belieben unterteilt werden können so wie im ASP Wohnbau im neuen Wiener Stadtteil „Seestadt Aspern".
Identität in der Stadt – welche Rolle spielt die Beziehung zum Wohnort?
Wie kann ein über 100 Meter hohes Wohnhochhaus ein Ort des Wohlfühlens und der Heimat sein? Was sich zunächst widersprüchlich anhört, haben querkraft architekten in Wien mit dem CGLA Wohnhochhaus längst realisiert. Mit flexibel erweiterbaren Wohnzonen und teilweise mehrgeschossigen Gemeinschaftsräumen wie Skygarden, Spielbereich oder Waschraum wird die Kommunikation zwischen den Bewohnern gefördert. Dazu sorgt ein Farbkonzept für Orientierung. Um zukünftig größtmögliche Flexibilität zu gewährleisten, haben querkraft architekten den Prototypen „Vertical-Lofts" entwickelt. Inspiriert von den Apps eines Smartphones, verbirgt sich dahinter ein System, so Sapp, das jederzeit umprogrammiert werden kann. Durch frei kombinierbare Module lässt sich das Loft auf die jeweiligen Bedürfnisse der Bewohner umbauen.
Technik ist kein Selbstzweck
Technik ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Schleichend hat sie über einen Zeitraum von vielen Jahren Einzug in unser Leben gehalten. Dennoch, so verdeutlich Tobias Wallisser von LAVA aus Berlin, darf sie niemals einem reinen Selbstzweck dienen. Vielmehr liegt das Interesse des Berliner Büros in der Verschmelzung von Technik und von menschlichen Bedürfnissen. Verglichen mit anderen Bereichen vollziehen sich in der Architektur technische Entwicklungen sehr viel langsamer. Denn Hardware, so führt Wallisser an, hat eine andere Halbwertzeit als Software. Ein Beispiel dafür, wie Architektur und Technik zusammenwirken können, ist das Future Hotel. Gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut entwickelte LAVA Ideen für ein neuartiges ganzheitliches Hotelzimmerkonzept – immer in Bezug auf die Fragestellung, wie auf nur 30 Quadratmetern ein Gefühl von Luxus entstehen kann. Die Antwort: Indem der Raum zur Schnittstelle zwischen Mensch und Technik wird, kann „Erlebnis Größe ersetzen".
Das Gebäude als Bühne – das Verhältnis von Gebäude und Umgebung
Ein weiteres Anliegen von LAVA ist es, Gemeinschaft erlebbar zu machen. Am Beispiel der Jugendherberge in Bayreuth schildert Wallisser, wie durch die Minimierung von Privaträumen der Bezug nach außen optimiert wird und Flächen geschaffen werden, auf denen sich Menschen begegnen. Realisiert wird dies konkret durch verschiebbare Zimmerwände. Zudem orientieren sich alle Räume und Flure um die Mitte des Baus; Maßnahmen, durch die das Gebäude zur Bühne wird, so Wallisser.
„Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße": Stellvertretend für die Wünsche vieler zitiert Wallisser „Das Ideal" von Kurt Tucholsky (1890- 1935, deutscher Journalist und Schriftsteller). Denn auch, wenn Menschen die Stadt und ihre kulturellen Errungenschaften schätzen, sehnen sie sich doch gleichzeitig auch nach Privatsphäre, der Natur, einem eigenen Garten. Die Herausforderung für Architekten liegt deshalb in der Frage, wie sich diese Wünsche kombinieren lassen. Als Lösung stellt Wallisser drei Varianten vor: den Klassiker, die Villa im Grünen, das Projekt begrüntes Penthouse inmitten der Stadt (Secret Garden) und als dritte Möglichkeit den Geschosswohnungsbau (The Square). Letzterer bietet zugleich Öffentlichkeit, Durchmischung und Privatraum. Durch Faktoren wie eine Dachlandschaft, Wohnungen, Büros, ein Medizin- und Forschungszentrum, Sporteinrichtungen, aber auch Einkaufmöglichkeiten werden die Bereiche Wohnen, Arbeiten und Freizeit integriert. Gleichzeitig erhält der Stadtteil über die öffentliche Nutzung einen wichtigen Akzent.
Mit ihren Projekten zeigen Peter Sapp wie auch Tobias Walliser vielfältige und weitreichende Lösungen, um Wohnraum für Menschen zu schaffen. Und zwar Wohnraum, der nicht nur ein Dach über dem Kopf bietet, sondern tatsächlich den Menschen und ihren individuellen Bedürfnissen gerecht wird. In der anschließenden Podiumsdiskussion zwischen den Architekten Professor Alain Thierstein von der Technischen Universität München und David Christmann von der PATRIZIA Deutschland GmbH wurden Aspekte analysiert, die die Umsetzung solcher Projekte erschweren beziehungsweise dazu führen, dass Wohnraum bezahlbar ist und bleibt.
Ausgehend von der Tatsache, dass die durchschnittlichen Mietpreise in München heute für 100 Quadratmeter Wohnraum bei rund 14,50 € liegen (Quelle wohnungsboerse.net), erläutert David Christmann zunächst die Umstände, die hierfür ursächlich sind. So liegt der Verkehrswert für ein Grundstück am mittleren Ring bei etwa 1.600 € pro Quadratmeter Geschossfläche. Der Grundstückspreis plus Baupreis für diese Lage beträgt rund 4.000 €. Damit ist klar, so Christmann, dass die Mietpreisbremse nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann. Denn das Angebot an Grundstücken ist eng, die Baupreise lassen sich nicht verändern und der Wettbewerb ist gestiegen. Rückblickend hätte bei den Grundstückspreisen eingehakt werden müssen – so wird sich die Preisspirale vorerst weiterdrehen. Ergänzend fügt Tobias Wallisser hinzu: „Ich weiß nicht, ob es schlimm ist, wenn der Quadratmeterpreis hoch ist. Schlimm ist es, wenn Wohnungen nur für einen Abend im Monat genutzt werden. Denn Wohnraum, der nicht genutzt wird, ist nie nachhaltig. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Leuten, denen große Teile der Stadt gehören, diese einfach nutzen".
Wahrnehmung von Stadt – wo findet Stadt in München statt?
München, das macht Alain Thierstein klar, findet schon lange in der Region statt. Denn überall werden die gleichen Preise aufgerufen. Dennoch wird so getan, als gäbe es einen Unterschied zwischen Stadt und Region, womit Wahrnehmung und Realität diametral auseinander gehen. Das zweite Problem ist, dass von einer monozentrischen Stadt ausgegangen wird. Tatsache ist aber, dass, so Thierstein, polyzentrische Strukturen mit neuen kleinen Zentren und einer schlechten Qualität hinsichtlich des Nahverkehrs und der Erschließung vorherrschen. Um eine Veränderung herbeizuführen, fordert der Professor für Raumentwicklung an der Technischen Universität München diese polyzentrische Struktur als Teil der Lösung zu instrumentalisieren und nicht als Problem hinzustellen. Das heißt, mit einer tangentialen Verkehrsverbindung wichtige Vernetzungen zu schaffen und so zukünftig nicht mehr Vorstadt, sondern vielmehr innere Stadt zu bauen. Denn die hohen Preise sind immer auch ein Ausdruck der Wertschätzung der Menschen, resultierend u.a. aus interessanten Arbeitsplätzen.
Auch Peter Sapp tritt für neue Mobilitätskonzepte ein. Lösungen sieht er in der Verdichtung ebenso wie in einer sehr guten öffentlichen Anbindung. Denn zwei Autos pro Familie und das Pendeln in die Stadt sind für ihn keine Alternative. Für Tobias Wallisser stellt Technik eine Lösung dar – in diesem Fall das autonome Fahren. Durch die selbstfahrenden Fahrzeuge wird weniger Straßenraum benötigt und Parkraum wird frei für andere Dinge. Auch dadurch werden sich unsere Städte verändern. Die Lösung, so fasst Boris Schade-Bünsow, Chefredakteur der Bauwelt, zusammen, könnte bei einer polyzentrischen Region wie München damit in der Integration von Arbeit und Wohnen verbunden mit einem starken öffentlichen Nahverkehr liegen.
Eine der Hauptaufgaben im städtischen Wohnen wird in Zukunft daher die Stärkung des Standortes sein. Es gilt, dessen Unverwechselbarkeit zu fördern und eine lokale Identität zu stiften, die dazu beiträgt, die Lebensqualität zu steigern. Damit bezahlbarer Wohnraum in Zukunft realisierbar ist, sind intelligente Wohnraumkonzepte unabdingbar. Denn wenn man Eigentum als Maßstab ansetzt, dann gehört die Stadt uns allen – den Bürgern. Und nur dann ist auch die Lebendigkeit und Dichte gewährleistet, mit denen wir alle Stadt verbinden.