Nachbericht zur Werkstatt 'Flucht nach vorn' plus TV-Hinweis für heute.
Das Symposium Flucht nach Vorne konnte einen positiven Beitrag leisten zur sonst eher defensiv geführten Diskussion über Flucht und Migration. Mehr als 200 am Thema Interessierte trafen sich im Münchner Kreativquartier mucca und im Museum Fünf Kontinente zu interdisziplinären Fachvorträgen, Podiumsdiskussionen, Best-Practice-Lösungen und konkreter Ideenschmiede, zu Information, Gedankenaustausch und Mitarbeit. Die Fragestellungen reichten von Verantwortung und Willkommenskultur über Experimente, Leuchtturmprojekte und Modelle bis hin zu Chancen für das Land.
Was haben die Vorträge und Praxisbeispiele konkret gezeigt?
Komplexität erfordert interdisziplinäre Teams
Zunächst einmal, dass es von Anfang an interdisziplinäre Expertenteams braucht, um sich den komplexen Aufgaben zu stellen, die das Schaffen eines Zuhauses für die neu zu uns kommenden Menschen mit sich bringt. Dazu gehören neben Architekten und Stadtplanern, Landschafts- und Innenarchitekten vor allem Vertreter der Kommunen, Wohnungsgenossenschaften und der Bauindustrie, Investoren, Unternehmer und Politiker, aber gerade auch Ethnologen, Psychologen, Soziologen, Islamwissenschaftler, Orientalisten, Geistliche der verschiedenen Religionen und nicht zuletzt Vertreter der Betroffenen selbst. Und es sind kontinuierliche Information und transparente Entscheidungsprozesse gefragt. Dabei ist der offene und konstruktive Dialog mit den Bürgern, vor allem aus der unmittelbaren Nachbarschaft, besonders wichtig, um den sozialen Frieden in der Gesellschaft zu erhalten. Um das Spannungsfeld von Distanz und dauerhafter Nähe zu entschärfen, die neue Nachbarn und neue Wohnformen mit sich bringen; um sie nicht zu einer Zumutung, sondern zu urbaner Lebensqualität werden zu lassen.
Qualität verlangt Planung mit kühlem Kopf
Des Weiteren bestand Einigkeit darüber, dass hochwertige, atmosphärische Architektur mit dem Potential, neue Handlungsräume zu eröffnen, auch schwierigen Projekten oder kontrovers diskutierten Bauvorhaben eine höhere Akzeptanz verschafft. Dass deshalb die Qualitätsfrage, die immer im Wettkampf mit der Quantitätsfrage steht, viel früher gestellt werden muss. Dass der vermeintliche Zwang, innerhalb kürzester Zeit und mit begrenzten Mitteln enorme Quantitäten zu schaffen, weder die unbedingt notwendige, ortsangepasste und städtebauliche Weiterentwicklung noch die sozialen und kulturellen Errungenschaften unseres Landes torpedieren darf. Und schließlich, dass es in der gegenwärtigen Hektik mehr denn je geboten ist, einen kühlen Kopf zu bewahren, um Schnellschüsse und Fehler zu vermeiden. Denn die heute errichteten Häuser werden mindestens 80 Jahre lang stehen bleiben!
Provisorien dienen niemandem
Was wir vermeiden sollten, ist das dauerhafte Provisorium. Denn mit diesem Provisorium müssten wir alle auf Jahre leben: die Bewohner, die Nachbarn, aber auch alle Bürgerinnen und Bürger einer Stadt oder Gemeinde, weil die negative Ausstrahlung groß sein kann und soziale wie volkswirtschaftliche Folgen zu tragen sind. Auch monofunktionale Wohnheime mit einseitiger sozialer Struktur sind keine geeignete Lösung. Sie tragen ein Stigma, verhindern Inklusion, verursachen Mehrkosten (für Betrieb, Wachschutz etc.) und müssen zur nachfolgenden Nutzung umgebaut werden.
Die Würde des Menschen ist Grundgesetz – auch beim Wohnen
Es ist einfach, ein Willkommen zu bauen und damit ein Stück der alten Heimat in die neue zu transportieren. Vorschläge dazu gibt es in Hülle und Fülle – nicht zuletzt heißt der deutsche Beitrag zur diesjährigen Architekturbiennale Making Heimat. Sogar schnell und preiswert errichtete Modullösungen können ansprechend sein, wenn auf die Grundbedürfnisse ihrer Bewohner Rücksicht genommen wird und diese vertraute Elemente, wie etwa Laubengänge, Innenhöfe und geborgene Zwischenräume, wiederfinden. Ja, selbst innerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen wie Zeltlagern und Unterbringungshallen lassen sich das Recht auf Intimität und Rückzug, letztlich das Recht auf Menschenwürde, schon mit einfachen kreativen Konzepten erreichen: Mittels abschließbarer Einheiten mit Dach und Tür, einfacher, aber im Gebrauch angenehmer Materialien, mittels städtebaulicher Ordnung durch klar sichtbare Unterscheidung von Wegen, Höfen und Plätzen, von Gemeinschafts- und Privatraum.
Inklusion durch Teilhabe
Kontakt und Nähe entstehen durch gemeinsame Interessen. In diesem Zusammenhang essentiell erscheint die Nutzung der Erdgeschossflächen. Gerade in Zeiten noch nicht erteilter oder eingeschränkter Arbeitserlaubnis ermöglicht die Erdgeschossnutzung zunächst einen Rahmen für gegenseitige Hilfsangebote wie Kinderbetreuung, Haareschneiden, gemeinsames Kochen, Änderungsschneiderei, Hilfe bei Formularen etc., der sich nach Genehmigung leicht erweitern lässt. Und der spätere Friseursalon oder das Café mit Freifläche auf die Straße hinaus schafft Raum für Begegnung, Nähe, Integration.
Unkonventionell Neues schaffen – mit Engagement und Rückendeckung
Bund und Länder reagieren mit konstruktiven Maßnahmen auf die Erfordernisse der Stunde: Mit dem Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, mit dem Wohnungspakt Bayern oder dem Arbeitsbündnis Programm soziale Stadt. Flächen werden ausgewiesen, Vorschriften gemildert, finanzielle Mittel bereitgestellt. Das sind die richtigen Signale zur richtigen Zeit. Doch die Beispiele der Werkstatt zeigen: Es braucht – und es geht – noch viel mehr!
Fazit von Karlheinz Beer, BDA Landesvorsitzender: „Unsere Werkstatt Flucht nach vorne hat zu Dichte geführt, die Dichte zu Nähe und diese Nähe zu ersten Ergebnissen. Die vielen Vorschläge und Ideen spiegeln vor allem unsere positive Herangehensweise an die große Aufgabenstellung wider, die wir als große Chance begreifen. Wir Architektinnen und Architekten kennen unseren gesellschaftlichen Auftrag – und wir nehmen diesen wahr. Wir liefern mehr als den „bloßen Bau", wir entwickeln in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen räumliche und kreative Lösungen, programmatisch, konzeptionell und baulich, für die dringenden Herausforderungen unserer Zeit."
TV-Hinweis heute:
Am Donnerstag, 19.05.2016, 22:00 Uhr wird im Bayerischen Fernsehen in Capriccio der Beitrag „Die Notwendigkeit einer anderen Baukultur" von Norbert Haberger ausgestrahlt. Dieser wirft u.a. einen Blick auf die beiden Werkstatttage in München.