Architekturkritiker Dr. Jürgen Tietz im Gespräch mit Sir David Chipperfield über sein erstes großes Neubauprojekt in München.
KARL heißt das neue Quartier, das auf dem ehemaligen MAHAG Gelände in der Karlstraße 77-79 / Ecke Denisstraße entstehen soll. Das aktuell brach liegende, knapp 7.500 qm große Areal ist Teil eines Gebietes, das mit dem Bau des neuen Münchner Hauptbahnhofes an Relevanz gewinnt. Als Initialbau soll das Projekt den Wandel vom industriellen zum urbanen Stadtraum maßgeblich anstoßen. Es handelt sich um einen Neubau mit ca. 30.000 qm oberirdischer BGF, der einen Nutzungsmix mit Schwerpunkt Büro vorsieht.
Im Interview mit dem Architekturkritiker (NZZ / db deutsche bauzeitung) und Publizist Dr. Jürgen Tietz beschriebt der Londoner Stararchitekt das Projekt und verrät, was ihn an München beeindruckt:
Jürgen Tietz: Sie arbeiten seit vielen Jahren erfolgreich als Architekt von Schanghai bis New York. Was macht für Sie den besonderen Reiz Münchens aus?
David Chipperfield: Als Architekt, der zwar aus England kommt aber zugleich ein Büro in Berlin unterhält, ist es sehr beeindruckend, wie schön und vollständig München als Stadt ist.
JT: Mit den skulpturalen Betonstützen und dem zauberhaften Flugdach erhält Ihr Entwurf für das KARL eine ganz besondere Note. Was gab für Sie den Impuls für diese Formfindungen?
DC: Wir standen vor der Frage: Wie verwandelt man dieses industriell geprägte Areal in ein „normales" Gebiet und wie kann man trotzdem etwas von seiner Eigenheit bewahren? Wir haben nicht versucht, das wörtlich in das Gebäude zu übersetzen. Vielmehr drückt sich die Eigenart des Quartiers in dem robusten, loftähnlichen Charakter des Hauses aus. Wir haben dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Überlegungen diskutiert. Es erschien uns wichtig, das Gebäude dadurch in den Ort einzubetten, indem wir seinen Maßstab herunterbrechen. Daraus ergab sich die Entscheidung, die Fassade mit großen skulpturalen Betonfertigteilen zu gliedern und ihr so eine höhere materielle Qualität zu geben als bei konventionellen Fassadenverkleidungen. Mit der Doppelgeschossigkeit der Fassadenelemente schummeln wir ein wenig, denn es wirkt so, als wäre das Haus kleiner, als es ist. Gleichwohl ist das ein ganz übliches Verfahren in der Architektur. Denken Sie nur an die Bürogebäude im London des 19. Jahrhunderts.
JT: Mit Ihrer Architektur sind Sie immer wieder in einen intensiven Dialog mit dem Bestand eingetreten. Beim KARL wird die alte Shedhalle als Stahlskelettkonstruktion wiedererrichtet. Was bewirkt dieser Dialog der Zeitschichten für die Atmosphäre eines Hauses?
DC: Ich vermute, wir alle befürchten, dass unsere Städte an Charakter einbüßen. Unser Verhalten gegenüber der Moderne und der Geschichte ist in gewisser Weise widersprüchlich: Einerseits feiern wir die Errungenschaften der Moderne. Anderseits haben wir Angst davor, etwas zu verlieren. Das betrifft nicht nur die Architektur, sondern unser ganzes Leben. Deshalb hatten wir zunächst versucht, noch mehr vom Bestand zu übernehmen. Aber es ist natürlich sehr schwierig, das in ein neues Gebäude zu integrieren. Ich denke, die wiederaufgebaute Shedhalle wird ein schönes Element, durch das das neue Gebäude mit dem verbunden wird, was den Ort bisher ausgemacht hat.
JT: Wie wichtig ist die Wahl der Materialien für den Charakter des Hauses?
DC: Die doppelgeschossigen Betonelemente heben die skulpturale Qualität besonders hervor. Dazu werden die Fenster und ihre Rahmen eine zweite Ebene bilden. So entsteht ein Kontrast. Wir haben schon einige Bauten mit Sichtbetonfertigteilen fertiggestellt, aber es ist in der Tat das erste Mal, dass wir eine solche doppelgeschossige Ordnung verwirklichen. Für uns ergibt sich dabei die Herausforderung, eine angemessene Verbindung der Fassadenebenen zu formulieren.
JT: Künftig wird ein öffentlicher Weg zum Innenhof des KARL führen. Ein Geschenk an die Münchner und ihre Gäste mit Vorbildcharakter?
DC: Absolut. Wir begrüßen es, ein Haus zu entwerfen, das zusätzlichen Raum für die Öffentlichkeit schafft. Jedes Gebäude hat eine Verantwortung gegenüber der Stadt. Unser Bauherr mag diese Haltung sehr. Natürlich kamen uns einige Aspekte bei der Planung des Hofes entgegen: die Mischnutzung als Hotel- und Bürogebäude ebenso wie seine Lage an einer Straßenecke. Die Öffnung des Hofes ist fundamental für den Charakter des Hauses. Tatsächlich bildet der Hof eine Art Platz aus und schafft die eigentliche Adresse.
JT: Welche Impulse gehen vom KARL für die Entwicklung des Quartiers aus?
DC: Nun, ich denke, das knüpft an das an, was wir gerade gesagt haben. Das eine ist die Präsenz der Architektur selbst. Wir haben versucht ein Gebäude mit einer strengen physischen Präsenz zu entwerfen, das gegenüber seiner Umgebung mithalten kann. Das andere ist sein freundlicher Charakter, in dem es versucht, mit historischen Spuren wie der Shedhalle an seine Umgebung anzuknüpfen.