Hier lesen Sie die Erläuterung der Arbeit von Anne Imhoff; verfasst von der Kuratorin selbst:
Auf Einladung von Susanne Pfeffer hat Anne Imhof die Arbeit „Faust" für den Deutschen Pavillon auf der 57. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia entwickelt. In der für den Raum und die Situation entwickelten skulpturalen Setzung entfacht sich das zusammen mit ihrem festen Team neu konzipierte Stück zu neuen Kompositionen. „Faust" ist zum einen eine gut fünfstündige Inszenierung, zum anderen ein auf sieben Monate angelegtes Langzeitszenario aus performativer Dynamik, skulpturaler Installation, malerischer Setzung und präziser Choreografie der Sichtachsen und Bewegungen, das den gesamten Pavillon umfasst. So ist „Faust" unbedingte Gegenwart, deren Essenz sich dem Betrachter unmittelbar, im Augenblick mitteilt:
Ein Raum, ein Haus, ein Pavillon, eine Institution, ein Staat. Fließend, kristallin und hart durchziehen Glasboden und Glaswände wie in den Machtzentren des Geldes den Raum. Raumgrenzen, die zugleich offenlegen und permanent alles sichtbar und kontrollierbar machen. Der erhöhte Boden hebt die Körper an und verändert die Proportionen des Raums. Unter, neben und über uns sind Körper Einzelner und Vieler. Erhoben wie erniedrigt bewegen sich die Performer durch, unter und auf dem Pavillon. Auf frei stehenden gläsernen Podesten stehen oder hocken sie wie schwebend an den Wänden der Räume – Körper, Skulptur und Ware zugleich. Unversehens befinden wir uns in einer Konstruktion von Macht und Ohnmacht, Willkür und Gewalt, Widerstand und Freiheit. Draußen, im eigenen Territorium, bewachen die Hunde das Haus.
Der Schrei verstummt unter dem verzögerten Schlag der eigenen Hand. Die vermeintliche Umarmung erstarrt im stillen Kampf der angespannten Kräfte. Dumpf verhallt der Schlag der Faust auf der Brust und lässt den Arm mechanisch zurückschnellen. Gegen das Glas gepresst, verformen sich die Körper bis zur Unkenntlichkeit zu einer fleischigen Masse. Die Hand befriedigt autark und still das eigene Geschlecht. Die Körper der Performer sind auf das nackte Leben reduziert. Sie lassen sich anhand ihrer Sexualökonomie analysieren. Masturbation als Regression und Widerstand, als Tod der Sexualität und zugleich als Bild einer Sexualität, die allein dem visuellen Konsum dient. Lust entsteht nicht im sexuellen Akt, sondern im Akt des Sehens und Gesehenwerdens. Die stummen Schreie zeugen vom Schmerz des zunehmenden Verschwindens des Lebendigen, der Zombisierung des kapitalisierten Körpers. Die dualistische Konstruktion, die Grenze zwischen kapitalisiertem Subjekt und kapitalisiertem Objekt, scheint aufgelöst. Wie aber agiert die Macht, wenn sie sich von den Subjekten abspaltet und sie zum Objekt macht?
„Niemals zuvor konnte sich Macht so schnell im gesellschaftlichen Körper ausbreiten und war so schwer zu fixieren." (Paul B. Preciado) Die Essenz des Kapitalismus ist der hemmungslose Verbrauch der Körper.
Das transparente Glas erlaubt den sezierenden Blick des Betrachters auf den Per- former und zurück; die kalte, symmetrische Struktur ermöglicht unmittelbare Beobachtung sowie direkte Kontrolle. Das trennende Glas schafft Distanz wie auch Selbstwahrnehmung und die Bewusstwerdung der Betrachtung. Blicke treffen sich, aber keine Kommunikation entsteht. Die Performer nehmen einen wahr, aber erkennen einen nicht an. Man ist inmitten der performativen Handlungen, aber wird nie Teil davon sein. Nach Gender, individuell und eigen, zugleich aber stereotyp, treten die Performer in Erscheinung. Die individuellen Bewegungen und Gesten jedes Einzelnen stehen im Widerstreit zu den uniformen, mit Textmessages gesteuerten Bewegungen, die an unreflektierte, aber unaufhörlich eingeübte gesellschaftliche Codes erinnern. So erscheinen diese dressierten und fragilen Körper wie von unsichtbaren Machtstrukturen durchzogenes Material. Sie sind Subjekte, die sich permanent gegen ihre Objektwerdung zu sträuben scheinen. Den Bio-Techno-Körpern ist ihre mediale Vermittlung bereits inhärent. Den Performern ist bewusst, dass ihre Gesten kein Zweck an sich sind, sondern sie allein in ihrer Medialität existieren. So scheinen sie sich permanent in konsumierbare Bilder zu verwandeln; sie wollen zum Bild werden, zur digitalen Ware. In einer hochgradig von Medialität gekennzeichneten Zeit bilden Bilder unsere Realität nicht nur ab, sondern stellen sie her.
Die gegenwärtigen biopolitischen Körper sind keine eindimensionale Oberfläche mehr, auf der sich Macht, Gesetz, Kontrolle und Bestrafung einschreiben, sondern ein dichtes Innen, in dem Leben ebenso wie politische Kontrolle stattfindet – in Form von Austausch und Kommunikation. Es tritt ein neues Subjekt in Erscheinung: hormonal, medial, hoch vernetzt. Die Schönheit der Körper, die wir sehen und als selbstoptimiert annehmen, ist durch die Werbe- und Warenbildökonomie, der wir immer ausgesetzt sind, konditioniert. Sie liegt nicht im Auge der Betrachtenden, sondern in der Perfektionierung der Verwertungszusammenhänge, der Algorithmen.
Eigens für die jeweiligen Stimmen der Performer geschaffene Kompositionen erklingen zunächst vereinzelt und summieren sich im technologischen Zusammenschluss der Mobiltelefone mehr und mehr zu einem ebenso gewaltigen wie solipsistischen Chor. In der Gruppe formiert, bleibt die ziellose Individualität bestehen. Auch wenn sie gemeinsam singen, singen sie vom Ich.
Die Hunde im Zwinger, Herr und Hund, Hund und Gefährte sind Zeugnis eines dem kulturellen Wandel unterzogenen Machtverhältnisses und Sinnbild der sich wandelnden Konstruktionen von Natur: kein trennender Dualismus von Natur und Kultur, sondern der Zwinger als Welt.
In einer Gesellschaft, in der die Schuldfrage keine religiöse, sondern eine der individuellen Eigenverantwortung, in der Krankheit keine Gottesstrafe, sondern selbstverschuldet ist, wird der Körper zum Kapital und Geld zum einzigen Parameter. Der Körper wird zum Konsumgegenstand des freien Marktes. So entscheidet die Marktrationalität, ob ein Körper schützenswert ist oder nicht – bis hin zur Nekropolitik. Im Kapitalismus ist die Herrschaft des Geldes absolut. Ähnlich wie in Goethes „Faust" wollen wir etwas verkaufen, das es gar nicht gibt. Die Seele gibt es hier nicht, die Waren der Finanzwirtschaft gibt es nicht, und doch, oder gerade deshalb, funktioniert das System. Allein im Zusammenschluss als Gruppe von Körpern und in der Besetzung von Raum kann sich Widerstand formieren. Auf den Balustraden und Zäunen, im Untergrund und auf dem Dach, erobern und besetzen die Performer den Raum, das Haus, den Pavillon, die Institution, den Staat.
Ausstellung: 13. Mai – 26. November 2017
Eröffnung des Deutschen Pavillons: 10. Mai 2017, 16:00
Künstlerin: Anne Imhof, Titel: Faust
Kuratorin: Susanne Pfeffer