Lesetipps für den Sommer: buntes Potpourri von ArchiFlops über München 50 60 70 bis zu Mosaiken in der Ukraine.
Geht es Ihnen auch so? Im August sind Freunde, Kollegen und Bekannte anscheinend alle gleichzeitig in Urlaub und auch sonst ist wenig los in der Stadt – da gibt es so manchen lauen Sommerabend, den ich allein auf meinem Balkon verbringe und genüsslich durch Bücher stöbere, die ich in den letzten Wochen erstanden habe, aber nie die Zeit fand, mich damit zu beschäftigen.
Als erstes werde ich mir 50 60 70 Architektur aus drei Jahrzehnten im Münchner Stadtbild zu Gemüte führen, dessen Buchpräsentation vor Kurzem in der Kirche St. Matthäus am Sendlinger-Tor-Platz stattfand – passend im Ambiente der 50er-Jahre-Architektur. Alexander Fthenakis als Autor und Herausgeber und der Architekturfotograf Oliver Heissner haben vier Jahre lang Bauten und Stadträume aus den 50er, 60er und 70er Jahren in der Münchner Innenstadt untersucht und mit über 600 eigens für diesen Band angefertigten Fotografien dokumentiert. Dabei haben sie nicht nur bekannte und herausragende, sondern durchaus auch alltägliche und streitbare Zeugnisse jener Jahre berücksichtigt – das ist die Stärke des Buchs. Denn oft stehen diese Nachkriegsbauten ganz selbstverständlich im Stadtraum ohne dass sie groß beachtet würden. Dabei prägen sie in München oft ganze Straßenzüge. Wie groß ihr Anteil tatsächlich ist lässt sich an den Stadtbildkarten ablesen, die Teil einer ins Buch integrierten Studie der TUM zum baulichen Erbe der Jahre 1945-1979 in München sind. Hier werden auch interessante Einzelaspekte der architektonischen Gestaltung jener Zeit behandelt wie Ecklösungen, Schrift am Bau oder Schaufenster. Bei dem in Stadtteilspaziergänge aufgeteilten Hauptteil des Buches hätte ich dagegen gerne mehr Informationen zu den vielen schönen Bildern gehabt, die gerade die Fassaden oft geschickt in Szene setzen – immer vor einem hellgrauen Himmel übrigens, der die Farben und Materialien jener Zeit tatsächlich am besten zur Geltung kommen lässt.
Mit Fassaden beschäftigt sich auch Fotograf Yevgen Nikiforov. Im Bildband decommunized: ukrainian soviet mosaics präsentiert er rund 200 Mosaiken des Soviet Modernism zwischen 1950 und 1980, die er auf jahrelangen Reisen durch die Ukraine in 109 Städten gefunden hat. Die Fotos sind eine Auswahl aus seiner Dokumentation von über 1.000 monumentalen Wandbildern aus emaillierten Kacheln in leuchtenden Farben, die zum Teil kurz nach den Aufnahmen zerstört wurden: sie fallen mit ihren gigantischen Darstellungen von Arbeitern, Farmern, Astronauten und Athleten, mit ihren Motiven vom idealisierten Menschen und seiner Taten unter das sogenannte „decommunization law", das kommunistische Symbole und Slogans verbietet. Damit hat Yevgen Nikiforov nicht nur viele von Vernichtung bedrohte Bildwerke für das Bildgedächtnis bewahrt, sondern auch ein Kunstgenre zum ersten Mal umfassend vorstellt.
Vom Kunstgenre zum Kunsthandwerk und zurück nach Deutschland führt mich Handwerk wird modern. Vom Herstellen am Bauhaus. Über das Bauhaus habe ich ja nun schon einiges gelesen und dennoch gibt es immer wieder neue Aspekte. Diese Publikation befragt das Bauhaus in – Achtung: historischen Texten und wissenschaftlichen Essays, kaum Bilder – aus der Sicht des Handwerks. Um keinen Begriff wurde dort heftiger gestritten. Die Werkstätten waren Transiträume: zwischen Fabrik und Handwerksbetrieb, zwischen freiem Experiment und industrieller Akkordarbeit. Aus diesem Spannungsfeld heraus hat das Bauhaus versucht, das Handwerk als Utopie, aber auch in Koexistenz zur Industriekultur neu zu definieren. Der interessante Ansatz im Buch: Wie aktuell diese Debatten heute wieder sind, dazu positionieren sich zeitgenössische Designtheoretiker sowie Praktiker in Form von Interviews und liefern so neue Einsichten zum Verständnis des Handwerks im 21. Jahrhundert.
Um Münchner Handwerkskunst seit 1865 geht es bei Buchele Raumgestaltung und Posamenten-Müller. Auf die Publikation zum 120jährigen bzw. 150jährigen Firmenjubiläum hat mich eine Kollegin aufmerksam gemacht. Der Band ist zwar ein Marketing-Tool, aber charmant gemacht, gut gelayoutet und mit Texten versehen, die die vorgestellten Projekte bereichern und nicht in PR-BlaBla ertrinken. Einfach mal im Laden reinschauen und nach dem Buch fragen.
Bei ArchiFlop bin ich – neben dem Titel – am Titelfoto hängen geblieben, das die verlassenen „Ufo"-Häuser von Sanzhi Pod City zeigt. Moderne Ruinen üben auf mich eine ganz eigentümliche Faszination aus – und wahrscheinlich geht es auch anderen so. Alessandro Biamonti und sein Team haben an der Abteilung Design des Mailänder Polytechnikums versucht einige dieser modernen Ruinen zu katalogisieren. Und das haben sie ziemlich schlau angestellt, indem sie keine taxonomische Klassifizierung vorgenommen haben, sondern die Projekte nach den ursprünglichen – trügerischen – Überlegungen und Hoffnungen der Investoren in Kapitel eingeteilt haben, die da lauten: „Es werden viele Tausend kommen", „Es wird riesige Gewinne bringen", „Sie werden es nicht bemerken", „Sie werden sich bestens amüsieren". Vor 100 Jahren eine quirlige Großstadt in Namibia, heute begraben im Wüstensand. Einst der größte Freizeitpark Ostdeutschlands, heute allenfalls als Filmkiulisse genutzt. Für eine Million Menschen geplant, von 30.000 bewohnt. Was ist da schiefgelaufen? Das Tolle an dem Buch: Ich bekomme tatsächlich Antworten auf diese Frage, weil sich die Projektvorstellungen nicht in Bildern erschöpfen. Es gibt tatsächlich Hintergrundinformationen zu den ehrgeizigen Plänen und gescheiterten Visionen – in unterhaltsamen Beiträgen verfasst. Ein schaurig schönes Vergnügen, in der Tat.