Der Wessobrunner Kreis hat Ende 2019 seine Broschüre „lebenswert. Familientaugliche Wohnungen statt Einfamilienhäuser" veröffentlicht. MünchenArchitektur sprach mit Architekt Dietfried Gruber über ihr Entstehen und die Förderung durch den Fonds Nachhaltigkeitskultur.
Herr Gruber, warum und wie ist die Broschüre entstanden?
Erste Denkanstöße waren für mich einerseits Bilder auf Pinterest zu begrünten Fassaden, andererseits die Streitschrift von Daniel Fuhrhop „Verbietet das Bauen", dessen Thesen ich weltfremd fand. Als ich dann auf baunetz.de von einem Ideenwettbewerb zum Thema nachhaltiges Bauen im Rahmen von „#Tatenfuermorgen" las, habe ich mir intensiver Gedanken darüber gemacht, dass besonders die ausufernde Bebauung mit Einfamilien- und Doppelhäusern ein wesentlicher Faktor für extensiven Flächenverbrauch ist. Auf der Basis von 50 Jahren Lebens- und Berufserfahrung habe ich vorgeschlagen, Konzepte zu erstellen, wie sich die Wohnqualität eines Einfamilienhauses auf mehrgeschossige Bauten übertragen lässt. Wichtig war mir, nicht nur den Wunsch nach den eigenen vier Wänden und Privatsphäre, sondern auch nach Freiraum in Form von Terrassen mit Mini-Gärten und nach Ausweichräumen zu berücksichtigen, die man im Einfamilienhaus im Keller hat. Als andere Kollegen im Wessobrunner Kreis diesen Ansatz auch gut fanden, haben wir Mitte 2018 einen Teilnahme-Antrag für den Ideenwettbewerb gestellt. Zwei Monate später bekamen wir unter 230 Einreichungen als einer von 13 Gewinnern den Zuschlag.
Wie ging es danach weiter?
Zum Wessobrunner Kreis gehören rund 120 Architekten, von denen circa 20 regelmäßig aktiv sind. Ein Dutzend hat sich an den Vorbereitungen der Broschüre beteiligt, die über ein Jahr lang dauerten. Finanziell gefördert wurde außer den Druckkosten circa die Hälfte der geleisteten Arbeitsstunden bei einem verminderten Stundensatz. Acht Beiträge wurden schließlich in unserer Broschüre veröffentlicht. Ihr gemeinsamer Tenor ist die Forderung nach einer „positiven" Bebauungsdichte bzw. Nachverdichtung, der Reduktion der derzeit gültigen seitlichen Abstandsflächen, die Zulassung einer Bebauung mit drei bis vier Geschossen, wo sonst nur zweigeschossig gedacht wird, sowie einem sozialförderlichen und -verträglichen städtebaulichen Konzept. Dieses sollte die zunehmende Individualisierung beim Planen und Bauen im ländlichen Raum und Entwicklungen ablösen, die von zufälligen Marktmechanismen abhängen.
Welche Vorteile haben Wohnungen mit Einfamilienhausqualität?
Der Flächenverbrauch und somit die Kosten durch immer höhere Grundstückspreise werden deutlich reduziert, wenn man Wohnungen „stapelt"; große Bauvorhaben lassen sich wirtschaftlicher durchführen als kleine. Ihr sozioökologischer Mehrwert ist ein höheres Maß an kollektivem Miteinander, weil man sich stärker austauscht oder Einrichtungen wie Werkstätten, Hobby- und Partyräume oder Außenanlagen teilt. Das bedeutet eine Gegenbewegung zur Vereinzelung, bei der jedes Haus eine Insel ist, auf der man nebeneinander her lebt. Noch ist die Wunschvorstellung vieler Familien in Deutschland das Eigenheim auf einem 500 Quadratmeter Grundstück. Aber „postkonventionelle" Wohnraumbedürfnisse nehmen allmählich zu, die aktuelle Trends wie eine nachhaltige Neo-Ökologie, Vernetzung und Sharing-Economy aufgreifen.
An wen richtet sich Ihre Broschüre?
Alle unsere Mitglieder sollen eines der 1.300 gedruckten Exemplare bekommen. Außerdem wären Landratsämter, Gemeinden und Investoren im ländlichen Raum sowie im Speckgürtel größerer Städte, die unter hohem Siedlungsdruck stehen, die richtigen Adressaten. Zusätzlich steht sie auf unserer Internet-Seite zum Download für jeden bereit, der sich für unsere Ideen interessiert. Unser Ziel ist es, diese nicht für uns zu behalten, sondern so weit wie möglich als Inspiration für andere zu verbreiten. Das war auch eine Voraussetzung für die Förderung. Geplant sind außerdem Vorträge und eine Ausstellung. Für den Wessobrunner Kreis bedeutet diese Publikation, dass seine Arbeit auf eine neue Ebene gehoben wurde. Denn zum ersten Mal haben wir nicht nur Projekte gezeigt, die bereits realisiert wurden. Sondern programmatisch das formuliert, was der Gesellschaft aus unserer Sicht ebenso zeitgemäß wie zukunftsorientiert gut tun würde.
Interview mit Architekt Dipl. Ing. Dietfried Gruber (www.architekt-dietfried-gruber.de)
Broschüre zum Download unter: www.wessobrunner-kreis.de. Gedruckte Exemplare können über info@wessobrunner-kreis.de angefordert werden.
Ein kurzes Video über den Wettbewerbs-Beitrag findet sich hier.