Jan Esche im Gespräch mit Hans Georg Esch und Christoph Ingenhoven zum Thema Un-Orte.
Was sind Unorte? Visionen oder Depressionen, Utopie oder Endstation? Oder beides? Was des einen Ort, ist des anderen Unort?
Ingenhoven: „Orte" wirken wie Anker. An einem Ort „ist man da". Orte stiften Identität. Der französische Ethnologe Marc Augé, der den Begriff „non-lieux" erstmals 1994 in die Debatte eingeführt hat, versteht hingegen „Un-Orte" als reine Transiträume ohne menschliche Interaktion. Diese Un-Orte entstehen überall in der modernen Gesellschaft. Es sind meist „leere" städtische Räume, denen ihre Eigenschaften als „Ort" im anthropologischen Sinne abgesprochen wird. Augé hat sein Buch „Orte und Nicht-Orte" ja im Untertitel als „Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit" bezeichnet. Für mich ist das auch ein Ort, der zu besetzen ist. Die Romantisierung von Un-Orten liegt mir fern. Architektur und Städtebau sollen Lagen schaffen und uns ver-orten.
Esch: Der Begriff Unort kam mir erstmals in den Sinn, als ich für einen Kunden in Dubai fotografierte. Da manifestiert sich eine junge Stadt, die mit ihren Hochhäusern in den Himmel ragt, während sich um sie herum die Wüste unendlich auszubreiten scheint. Dies erschien mir unwirklich und nicht zusammen zu passen.
Wodurch entsteht das Un-? Ist dies alles eine Frage der Perspektive?
Esch: Natürlich ist es eine Frage der Perspektive und der Umstände. Anfang der 60 Jahre, vor dem Ölboom, war Dubai eine ursprünglich gewachsene Hafenstadt am Rande der Wüste. Mittlerweile etablieren sich die Vereinigten Emirate als Wirtschafts- und Handelszentrum im nahen Osten. Das dies eine Wandlung des urbanen Raums mit sich zieht, liegt auf der Hand. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist Dubai natürlich kein Unort. Ich gehe erstmal von meinem visuellen Denken aus, mich interessieren Formen, Linien, Strukturen, Räume, die ich in meinen Fotos in Beziehung setze. Wenn sich - wie im Falle von Dubai - eine Stadt aus dem Nichts empor windet, finde ich dies optisch und ästhetisch zunächst einmal sehr reizvoll - so übt dieser subjektiv gefühlte Unort, der durch seine Einzigartigkeit und spezifische Besonderheit besticht, eine große Faszination aus, im Besonderen auf einen Fotografen.
Ingenhoven: Nun, ebenso wie Dubai heute ist jede Stadt der Welt einmal aus dem Nichts heraus erfunden worden. Ich denke nicht, dass Dubai deswegen ein Un-Ort ist. Es ist eine junge Weltstadt, der man beim Wachsen zusehen kann. Aber überlegene Architektur reagiert auf eine gegebene Topographie und nutzt sie zu ihrem Vorteil, ohne sie zu beeinflussen. Architektur soll einem Ort etwas hinzufügen und ihn „aufladen" und nicht nur ausnutzen. Architektur wird für Menschen gemacht und was zählt, sind ihre Authentizität und Glaubwürdigkeit. Ich bin nicht der Erste, der die Defizite des modernen Städtebaus kritisiert, aber wann man beispielsweise die Speicherstadt am Hamburger Hafen mit der neuen Hafencity vergleicht, spürt man den Unterschied. Zeitgenössischer Städtebau ist oft wie eine Ansammlung von Einzelgebäuden, wie ein Architekturzoo. Bei der Speicherstadt hingegen hatte man durchaus noch Mut zur Größe und für einen ganzen Stadtteil nur einem Konzept und einer Architektursprache in Form und Material gefolgt. Städtebau als dreidimensionale Kunstform muss heute erst wieder entdeckt werden! Zu viel Diversifizierung führt zur Desintegration.
Unorte in der Welt suchen und untersuchen, auch in unseren Köpfen, um sie zu überwinden?
Ingenhoven: Das wäre eine Sisyphos-Aufgabe, denn sie wachsen nach. Einen Un-Ort in meinem Kopf habe ich allerdings noch nicht entdeckt!
Esch: Ich glaube, es geht nicht darum, Unorte zu überwinden - Unorte sind real, sie existieren und sind nicht per se negativ besetzt. Es geht eher darum, Unorte zu entdecken und zu verstehen, um aus ihnen Orte zu machen. Ich versuche dies mit meinen Fotografien.
Orte und Funktionen befinden sich im Umbruch, was bedeutet dies für Architektur und Städtebau?
Ingenhoven: Das ist eine sehr allgemeine Frage. Auf jeden Fall muss Baukunst einen Spagat ausführen zwischen einer größtmöglichen Flexibilität für wechselnde Ansprüche und andererseits muss sie langfristig Orte definieren und gegen fluide „Un-Orte" abgrenzen.
Esch: An moderne Architektur werden höchste Ansprüche gestellt - sie muss nicht nur funktional und ästhetisch ansprechend sein, sondern auch nachhaltig und dem wachsenden Umweltbewusstsein gerecht werden. Eine schwierige und fordernde Aufgabe für Architekten.
Sind Megacities noch zu retten? Sind sie noch reprogrammierbar?
Esch: Ich glaube, dass weniger die Stadt gerettet werden muss, als vielmehr eine Anzahl von Menschen in den Städten. Die rasante Entwicklung der Megacities bedeutet auch, dass viele Menschen verdrängt werden, nämlich die, die an dieser Entwicklung weder teilhaben noch teilnehmen. Mumbai z.B ist durch seine geographische Lage auf einer Halbinsel durch räumliche Knappheit gekennzeichnet und zählt heute mit ca. 18 Millionen Menschen zu den Megastädten der Welt. Illegale Slums, bisher geduldet, werden nun geräumt, um weiteres Bauland zu erschließen. Ich denke, dass der Prozess der Globalisierung, dessen Indikator die Metropolen dieser Welt sind, nicht aufzuhalten ist. Es erscheint mir jedoch wichtig, dass dieser Prozess nicht auf Kosten der Ärmsten vorangetrieben wird.
Ingenhoven: Viele Megastädte lassen sich als „wunderbare Katastrophe" bezeichnen: Einerseits vollführen sie einen permanenten Tanz auf dem Vulkan, stehen immer kurz vor dem Verkehrs-, Umwelt- und Armutskollaps, andererseits sollte man auch nicht vergessen, dass das (Groß-) Stadtleben -weltweit betrachtet - immer noch für Millionen Menschen Freiheit bedeutet - von den ökonomischen, familiären, räumlichen oder religiösen Zwängen des Landlebens. Die „Urbanisierung der Welt" hilft also auch bei der Emanzipation. „Re-programmiert" werden müssen die Städte und ihre Gebäude also in erster Linie in ökologischer Hinsicht.
Neue Lebens- und Arbeitswelten bedeuten eine Neuinterpretation von Lebensqualität? Stehen sie für ein neues Lebensgefühl? Für eine neue Lust an der Stadt?
Ingenhoven: Ja, natürlich. Mit der De-Industrialisierung haben die Städte - bei uns im Westen zumindest- auch wieder an Attraktivität als Wohnort gewonnen. Der Trend „ zurück in die Stadt", für den „Empty-Nesters", die in die Innenstadt ziehen oder junge Firmen, die alte Lofts ein neues Leben geben, stehen, ist erfreulich: Auch wir haben unser Büro in einer ehemaligen stadtnahen Mühle im Düsseldorfer Hafen und leben von daher die von Ihnen so genannte „neue Lust an der Stadt".
Esch: Städte bedeuten auch Ereignis, Experiment und Innovation. Ich befinde mich in der glücklichen Lage - durch meine Aufträge - die verschiedensten Städte besuchen und erfahren zu können. Meine - erst einmal rein physischen - gewonnenen Eindrücke versuche ich in meinen Fotografien umzusetzen und zu dokumentieren. Ich hoffe, dass gerade meine Fotografien Lust auf Stadt machen!
Wird die erlebte und gefühlte Megacity zu einem Thema mit höchst persönlichen Erfahrungen?
Esch: Ich befinde mich - durch das viele Reisen - permanent auf der Durchreise - dennoch kann ich den vielen Städten, in denen ich arbeite, individuelle Eindrücke zu ordnen. Auch wenn sich die unterschiedlichen Skylines von Städten ähneln und von einem Prozess architektonischer Angleichung zeugen, so ist es dennoch ein spürbarer Unterschied ist, ob man sich auf den weitläufigen Strassen Dubais oder in den engen Gassen von Tokio bewegt.
Ingenhoven: Ich stimme zu: Einerseits wird die Welt immer selbstähnlicher, kaufen, speisen und kennen Millionen Menschen in allen Winkeln der Welt die gleichen Marken und Produkte, andererseits produziert die Globalisierung wieder ihre eigene Exotik. Dass der Welt ihre Differenz ausgeht, das befürchte ich nicht.
Megacities - alles im Fluss? Voller Events und temporärer Gebäude ein Attraktivitätscluster weit über die Stadtbewohner hinaus?
Ingenhoven: Ja, städtebauliche Muster und Figuren überleben Gebäude, überleben die Stadtbewohner. Städte leben zwar auch von Events und temporären Bauten, aber am Ende des Tages ist es die Architektur, die bleibt und unseren Eindruck von einer Stadt prägt.
Esch: Ich verstehe Stadt in erster Linie als ein Zeichen und Indikator für kulturelle Identität - so übt „Stadt" schon immer eine große Anziehungskraft aus.
Megacities - Städte im Wandel und auch voller positiver Energien?
Ingenhoven: Hier in Europa haben viele vergessen, wie schnell und stürmisch Städte sprießen können, weil es ein explosives Stadtwachstum bei uns vor gut hundert Jahren im Zuge der Industrialisierung das letzte Mal gab. Einerseits beneiden wir vielleicht Tokio oder Abu Dhabi um ihre Dynamik, aber die „Wiederentdeckung der Langsamkeit" hat auch viele Vorteile: Einige der städtebaulichen und architektonischen Fehler, müssen wir hier in der alten Welt nicht mehr machen und können uns stattdessen auf (gebaute) Qualität konzentrieren.
Esch: Überall da, wo es nicht um Stillstand, sondern um Bewegung oder Wandel geht, wird Energie freigesetzt. Im Falle von kreativer Stadtentwicklung würde ich diesen Energiefluss primär auf jeden Fall als positiv bewerten. Ich sehe mich als Dokumentarist dieser Entwicklung und bin froh darüber, dass ich mit meinen Bildern von dieser rasanten und dieses Jahrtausend prägenden Entwicklung erzählen zu kann.
Veranstaltung "Megacities - Räume einer beschleunigten Gesellschaft" Fotos von Hans Georg Esch